Der drohende Abstieg von der Handelsmacht zum Museum – das ist die zentrale Botschaft oder zumindest Warnung von Sigmar Gabriel: Europa als Ort, an dem wir uns immer noch im Zentrum der Welt glauben und dabei nicht merken, dass die Musik inzwischen längst woanders spielt. Vielleicht bekommen wir es durchaus allmählich mit, wissen aber nicht, wie wir darauf reagieren sollen. Um es mit den Worten von Sigmar Gabriel zu sagen: Merken wir heute eigentlich, dass sich nach 600 Jahren zum zweiten Mal die zentralen Wirtschafts- und Handelsachsen und mit ihnen die politischen und militärischen Machtachsen verlagern?
Damals verschoben sich die Achsen vom Mittelmehr in den Atlantik und waren über einen langen Zeitraum eine feste Größe – bis ins 20. Jahrhundert. Nach dem Kalten Krieg fiel die Berliner Mauer, und der demokratische Kapitalismus schien gesiegt zu haben, gerade so, als ob wir mit den Warenströmen auch die freiheitliche Ordnung exportierten. In den 90er Jahren war vom „Ende der Geschichte“ die Rede, einem Schlagwort, das der Politologe Francis Fukuyama prägte und das damals genauso plakativ wie treffend klang. Russland wurde vom Gegenspieler im Kalten Krieg zum wichtigen Rohstofflieferanten. Man konnte sich kaum eine schönere Win-win-Situation vorstellen.
Dass dies ein Irrtum war, das wissen wir heute, nach dem Einsetzen verschiedener Entwicklungen. Zum einen hat sich das Selbstverständnis der USA grundlegend geändert. Wir nannten das Land früher den „Weltpolizisten“. Aber die USA wollen und können heute nicht mehr überall mitmischen und ziehen sich zurück, nach dem Motto: Sollen sich mal andere die Finger schmutzig machen. Was ein Populist wie Donald Trump mit „America first“ formulierte, kam nicht aus dem Nichts. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center hatten die USA nochmal zum großen Militärschlag ausgeholt. Doch die finanziellen Lasten dieser Interventionen wurden selbst für die USA zu groß. Die Rede vom überdehnten Imperium machte die Runde – der „hegemonic overstretch“ – und Präsident Barack Obama leitete den Rückzug ein.
Es entstand ein Machtvakuum. Wie es gefüllt wird, erleben wir derzeit auf mehreren Kontinenten. Am augenscheinlichsten ist das der Fall mit Russland, der Überfall auf die Ukraine hat den Westen kalt erwischt. Was das für Deutschland bedeutet, wissen wir alle inzwischen nur zu gut – wer hätte sich vor einigen Jahren die heutige Heizungsdebatte vorstellen können? Die Probleme draußen in der Welt haben handfeste Folgen für den eigenen Alltag.
Europa hatte unter dem Schutz des transatlantischen Bündnisses in der Vergangenheit gut leben können, ohne sich groß beteiligen zu müssen. Deutschland hatte andere Prioritäten als eigentlich dringend nötige Investitionen in die Bundeswehr. Aber bereits vor dem Krieg in der Ukraine haben die USA ihre Partner darauf gedrängt, die militärischen Kosten gerechter zu verteilen. Es gibt heute zu viele brennende Fragen, bei denen wir uns nicht wegducken können. Aktuell der Nahost-Konflikt, der gerade eskaliert ist und unser ganzes diplomatisches Geschick erfordert. Aber da ist auch die große Frage, wie wir ein neues nukleares Wettrüsten in der Welt verhindern können. Und nicht vergessen dürfen wir außerdem den Taiwan-Konflikt, der zwar nicht die Schlagzeilen beherrscht, aber weiterhin glimmt.
Zumal China als wirtschaftlicher Akteur auf der Weltbühne in Zukunft noch viel wichtiger sein dürfte als Russland. Das Land hält inzwischen fast ein Fünftel an der Weltwirtschaft, wächst zweimal so schnell wie die USA. Und würde die Wirtschaft Chinas schwächeln, wäre das auch ein Problem für alle Handelspartner, zu sehen beispielsweise an der Automobilbranche in Deutschland. Die Abhängigkeit bei den Lieferketten ist enorm, die Symbiose sehr eng.
Ein weiterer Faktor sind die BRICS-Staaten, neben China und Russland also Brasilien, Indien und Südafrika. Der Staatenbund hat nicht nur immer mehr wirtschaftliches Gewicht, er strebt auch mehr politische Macht an. Entstanden ist ein Gegengewicht zu den G7-Staaten, das wirtschaftlich und politisch zum Teil im Westen noch nicht ernst genommen wird. Aber wie sehr sich die Machtverhältnisse geändert haben, das sehen wir auch an den Positionen im Ukraine-Krieg: China will nicht mit Russland brechen und ist, global gesehen, mit dieser Haltung in bester Gesellschaft. Wenn Europa und die USA Russland verurteilen, dann macht das heute in der Welt sehr viel weniger Eindruck, als das vielleicht früher der Fall gewesen wäre. Das Gegengewicht zu den G7 wird mit den künftigen „BRICS plus“ stärker – im neuen Jahr sollen weitere Länder den BRICS beitreten: Aufgenommen in die Staatengemeinschaft werden Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Im Riesentempo und ohne
Berührungsängste werden
Tatsachen geschaffen.
Was bedeutet das nun für unseren Mittelstand? Könnte er sich nicht einfach neu orientieren, neue Partner und neue Absatzmärkte suchen? Das Problem dabei ist, dass sich nicht nur die Spielpartner, sondern auch die Spielregeln ändern. Bislang richten sich unsere Regeln mehr oder weniger nach dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, unserer großen Errungenschaft. Aber wie viele der künftigen Partner schätzen dieses Modell ebenfalls? Wir müssen beispielsweise beobachten, wie hohe staatliche Subventionen für die Wirtschaft fließen oder auch Markenrechte systematisch missachtet werden. Hinzu kommen ein Joint-Venture-Zwang oder die zunehmende Kontrolle durch den staatlichen Apparat – Marktwirtschaft ist etwas anderes.
Auch bislang hatten natürlich nicht alle Handelspartner vorbildliche demokratische Standards, wie wir sie etwa aus Skandinavien kennen. Aber es gibt durchaus eine deutliche Verschiebung weltweit in Richtung autokratische Systeme. Laut Zahlen der Plattform „Varieties of Democracy“ lebt nur noch etwas mehr als ein Viertel der Menschen weltweit in einer Demokratie, die diesen Namen auch verdient. Vor zehn Jahren war das noch mehr als die Hälfte – eine erschreckende Entwicklung, die statistisch gesehen auch damit zu tun, dass Indien als bevölkerungsreiches Land herabgestuft wurde. Es zählt jetzt offiziell nicht mehr als Demokratie, sondern als Autokratie, trotz der dortigen freien Wahlen. Aber die globale Tendenz ist eindeutig – unsere Welt ist nicht demokratischer geworden, sondern autoritärer. Und vor allem: Die liberalen Demokratien scheinen nicht mehr ein Monopol für wirtschaftlichen und sozialen Erfolg zu haben. Auch autokratische Systeme bekommen Wirtschaftswachstum hin.
Das gilt nicht nur, aber besonders für China. Das Land braucht keine freien Wahlen, um Wohlstand zu schaffen, und es weiß diesen Wohlstand international strategisch klug zu nutzen. China investiert kräftig in Afrika, schafft wirtschaftliche Abhängigkeiten und stellt bei alldem keine unbequemen Fragen zu den Menschenrechten. Provokativ formuliert: Wo steht eigentlich geschrieben, dass unsere liberalen Demokratien produktiver, sozial sicherer und politisch stabiler funktionieren als autoritär geführte Staaten? Die bürokratischen Monster, wie wir sie nicht nur, aber gerade auch in Deutschland geschaffen haben, mögen rechtsstaatlich vorbildlich sein. Ihre Effizienz und die daraus folgende Produktivität stehen auf einem anderen Blatt.
Bürokratie und die rechtsstaatlich vorgesehenen Verfahren sind wichtig, aber kein Selbstzweck. Wenn ein Genehmigungsverfahren statt einem halben Jahr sogar fünf Jahre oder noch mehr benötigt, ist damit niemandem gedient – außer Mitbewerbern in anderen Ländern, die wirtschaftlich an uns vorbeiziehen. Die Folgen, die sich daraus ergeben, sind brandgefährlich –nicht nur wirtschaftlich. Es handelt sich dabei nicht um Luxusprobleme von Wohlstandsgesellschaften, sondern einen zentralen Wettbewerbsnachteil auch für unsere Demokratie.
Diese Probleme und die Kritik daran sind nicht neu. Aber offenbar ist der Leidensdruck noch immer nicht groß genug, damit eine Lösung in Angriff genommen wird. Noch immer leben zu viele Menschen in einer Art Blase, glauben, dass das, was draußen in der Welt passiert, nichts mit ihnen zu tun hat, und begreifen offenbar nicht, dass mit diesen Veränderungen auch unser Geschäftsmodell auf dem Spiel steht. Der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten könnte in dieser Hinsicht eine Art Realitätsschock sein. Auch wir Deutschen müssen in ganz vielen Bereichen kräftige Reformen anpacken und umdenken. Wir müssen lernen, dass sich mit bloßem Idealismus keine Weltpolitik betreiben lässt und eine ordentliche Rüstungsindustrie auch strategische Bedeutung für uns haben muss.
Gerade auch Unternehmenslenker, die überlegen, wie sie ihre Firma in die Zukunft führen sollen, haben die Zeichen der Zeit längst erkannt. Auch wenn niemand weiß, wie die neue Weltordnung 3.0 aussehen wird, ist es von zentraler Bedeutung, gemeinsam über diese Fragen nachzudenken und die Schlussfolgerungen publik zu machen, damit Druck auf die Verantwortlichen in der Politik entsteht.
Mit einer solchen Debatte lassen sich die Dinge vielleicht nicht von heute auf morgen verändern. Aber neben kurzfristigen, pragmatischen Lösungen sind langfristige, strategische Überlegungen unerlässlich. Wenn etwa ein Unternehmer in Deutschland feststellen muss, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht mehr gegeben sind, dann ist er gezwungen, sich internationaler aufzustellen. Das Motto lautet flexibel bleiben, nicht alle Eier in dasselbe Nest legen. Man wechselt sozusagen den Dienstleister, ähnlich wie ein Handy- oder Bankkunde, wenn das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht mehr stimmt.
So ein Wechsel ist natürlich für ein Unternehmen ungleich schwieriger. Wir müssen aber den Mut haben, neue Strategien zu entwickeln, um in dieser Welt nicht zwischen die Mühlsteine zu geraten. Sigmar Gabriel sprach in seiner Rede von einem neuen Realismus, mit dem wir auf die Welt schauen müssen, und auch von einer nötigen „Schubumkehr“, damit Europa in der Weltwirtschaft eben nicht wie Venedig endet.
Der Appell zu einer geeinten und gestärkten Europäischen Union mag nicht neu sind. Aber gerade deswegen müssen wir uns klarmachen, was auf dem Spiel steht. Denn realistisch gesehen ist selbst ein geeintes Europa noch nicht ausreichend, um sich in der Welt zu behaupten. Wenn wir freie und offene Märkte mit gleichen Wettbewerbsbedingungen wollen, dann brauchen wir weltweit Partner mit ähnlichen Interessen. Aus chinesischer Sicht sind wir schließlich nur ein Zipfel am anderen Ende der eurasischen Landmasse, wie es „Die Welt“ vor kurzem in einer Schlagzeile formulierte. Und trotzdem wird zumeist in bilateralen Deals versucht, möglichst viel für das eigene Land herauszuholen.
Die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft haben nicht nur national, sondern auch global ihre Berechtigung. Es geht nicht nur um freien Handel in unserer heutigen globalisierten Wirtschaft. Dieser Handel muss auch fair und sozial verträglich sein. Es darf keine beständigen Gewinner und Verlierer geben. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Sollen wir einfach zusehen, wie andere die neue Weltordnung entwickeln? Oder wollen wir uns neu aufstellen, und zusammen mit strategischen Bündnispartnern unsere Interessen vertreten?
Wenn Europa sein Schicksal in die
eigene Hand nehmen will, ist auch
ein mentaler Wandel vonnöten
Das weltweite Szenario, vor dem die aktuellen Geschehnisse stattfinden, zeichnet sich deutlich ab, ein Weckruf der heutigen Zeit. Da wäre zum einen die Verlagerung der Handelsachsen vom Atlantik in den Südpazifik. Zum anderen gehen die politischen Analysten davon aus, dass weniger Russland, als vielmehr China zur globalen Herausforderung der kommenden Jahrzehnte wird, und zwar unabhängig davon, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Russland wird schon jetzt auf dem Weg zu einem Juniorpartner der kommenden Weltmacht in Asien gesehen. Die russischen Rohstoffe dürften dann nicht mehr nach Europa, sondern zu weit günstigeren Preisen nach China geliefert werden.
Und während Deutschland noch unentschlossen seine Rolle sucht, erzeugt das asiatische Land handfeste Abhängigkeiten durch Investitionen und Kredite. In dieser Strategie werden die Konturen von etwas sichtbar, das die neue Weltordnung sein könnte. China schafft eine gigantische Infrastruktur und garantiert auf diese Weise sichere Handelsrouten, die dann mit politischer Loyalität bezahlt werden müssen.