Skip to main content Skip to page footer

GEOPOLITIK

Wie sicher ist Europa ohne die Hilfe der USA?

Ukraine-Krieg ohne Perspektive, Eskalation in Nahost: Die internationale Sicherheitslage stellt die EU vor riesige Herausforderungen. Welche Fehler gemacht wurden, wie groß die Gefahren sind und was jetzt zu tun ist. 

Mallorca ist so nah, dass man eine deutschsprachige Konferenz bequem in Palma abhalten kann. Aber auch die Ukraine liegt quasi nebenan. „In Europa herrscht Krieg“, lautete die einleitende Warnung beim Panel über europäische und globale Sicherheit – eine Erkenntnis, die auch nach über drei Jahren russischen Großangriffs auf die Ukraine nicht ausreichend im Bewusstsein der Bürger präsent sei.

Bei diesem zweiten Panel der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) ging es um die wachsende Verantwortung Europas für die Verteidigungsbereitschaft. Mit MSC-Leiter Wolfgang Ischinger debattierten Dr. Thomas Enders, Ex-CEO von Airbus und aktueller Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Generalleutnant a.D. Jürgen-Joachim von Sandrart und US-Politikberater Kenneth R. Weinstein. Weitere Einblicke lieferten der Ex-NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg per Videostatement sowie der ehemalige Luxemburger Außenminister Jean Asselborn. Auch Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel äußerte sich im Rahmen der Konferenz zur internationalen Lage.

Nicht nur die russischen Angriffe auf die Ukraine hielten während des Wirtschaftsforums unvermindert an. Gleichzeitig tobte der Krieg im Gazastreifen, und der Nahostkonflikt eskalierte mit Raketenangriffen zwischen Israel und Iran. Ein desillusionierter Kommentar auf dem Podium: Jetzt fehle nur noch, dass China in Taiwan einmarschiere – oder die USA in Kanada. Selbst wenn die Anspielung auf Trumps Begehrlichkeiten nicht als immanente Warnung gemeint war, so spiegelte sie doch die große Ungewissheit wider: Kann sich die NATO noch auf die Supermacht verlassen?

Die Antworten gingen weit auseinander: Während manche Referenten darauf hofften, dass die euro-amerikanische Einheit mit erhöhten europäischen Rüstungsausgaben wieder zusammengeschweißt werde, hielten andere einen NATO-Austritt der USA für durchaus möglich. In jedem Fall stehe die Essenz des Militärbündnisses infrage, die Beistandsverpflichtung im Artikel 5. Ob Trump im Falle eines Angriffs auf einen baltischen EU- und NATO-Staat Truppen schicken würde, sei zurzeit nicht klar zu beantworten. Inwieweit ergebe es dann noch Sinn, Waffensysteme wie den F-35-Kampfjet aus den USA zu kaufen? Jedenfalls müsse die vollständige Souveränität über erworbene Waffen bestehen und eine operative Abhängigkeit ausgeschlossen werden. De-risking gelte nicht mehr nur für Russland und China.

NEU DENKEN, so die Analyse der Referenten, das treffe für die internationale Sicherheit in besonderem Maße zu. Deutschland musste binnen kurzer Zeit eine 180-Grad-Wende in Sachen Rüstungsexporte vollziehen. Vor wenigen Jahren sei es undenkbar gewesen, deutsche Waffen in Krisengebiete zu schicken. Nun stelle sich vielmehr die Frage, wie man die Produktion möglichst effizient ankurbeln könne, um den Bedarf der Ukraine zu decken und sich gleichzeitig für eine mögliche Aggression aus Russland zu rüsten.

Dafür müsse mehr, schneller und effizienter investiert werden. Das Verteidigungsbudget aller EU-Staaten zusammen erreiche gerade einmal die Hälfte der US-Ausgaben. Zudem fließe das Geld in Europa in etwa 180 verschiedene und nicht miteinander kompatible große Waffensysteme. Die Verteidigungs-Euros seien also „desaströs schlecht investiert“. Ineffizienz und Zeitverlust könne man sich aber nicht leisten. Putin müsse sofort signalisiert werden, dass er den Krieg gegen die Ukraine auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen könne. Und spätestens binnen 18 Monaten müsse man darauf vorbereitet sein, dass Russland die Stärke der NATO durch einen Angriff – hybrid und mit brachialer Gewalt – im Baltikum austesten könnte. Die Idee, dass man drei bis fünf Jahre Zeit habe, sei falsch.

Über politische Fehler wurde offen diskutiert: Hätte man die Ukraine viel früher mit mehr Waffen und mit Truppen unterstützen müssen? Dabei wurde ein provokanter historischer Vergleich gezogen: Hätten die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewonnen, wenn die USA 1944 nur Waffen und keine Soldaten in die Normandie geschickt hätten? Weitere Fragen, die das Dilemma zeigen: Wie schädlich war die Debatte über deutsche Taurus-Raketen? Darf man hinnehmen, dass die Produktionslinien für Taurus stillstehen, weil es dem Hersteller gesetzlich verboten ist, in Vorleistung zu gehen? Wäre es zur Eskalation in Nahost gekommen, wenn man Israel früher unter Druck gesetzt hätte, sich für die Zweistaatenlösung einzusetzen? Hätte sich der Krieg zwischen Israel und Iran verhindern lassen, wenn die USA unter Trumps erster Amtszeit nicht aus dem Atomabkommen mit dem Iran ausgestiegen wären?

Bei der Diskussion um die militärische Abwehrkraft Europas dürfe man darüber hinaus nicht vergessen, dass die Stärke nicht nur von der Truppenzahl, der Leistung der Waffen sowie der Kapazität der Rüstungsindustrie abhänge. Man müsse sich auch gegen die im hybriden Krieg eingesetzten Fake News wehren, die darauf abzielten, die Stimmung in der Bevölkerung zu manipulieren. Forderungen nach Verhandlungen mit Russland erzeugten den Irrglauben, man habe den diplomatischen Weg ignoriert. Dabei müsse vielmehr klar sein, dass Putin bislang jedes Verhandlungsangebot mit Bomben auf die Ukraine beantwortet habe.

Verteidigungsfähigkeit hängt auch von der Bereitschaft der Bevölkerung ab. Wofür ist Europa, ist Deutschland zu kämpfen bereit? Den Bürgern in Polen, Finnland, Estland, Lettland und Litauen sei diese Frage viel bewusster als etwa in Deutschland. Und in diesem Kontext müsse auch die Debatte um eine allgemeine Wehrpflicht geführt werden. Denn die Soldatenzahl aufzustocken, wenn die aktuellen Kontingente nicht einmal ausreichend bewaffnet seien, habe wenig Sinn. Aber die Frage, ob man als Gesellschaft bereit sei, bestimmte Werte gegen einen Angriff zu verteidigen, müsse sehr wohl beantwortet werden.


Susanne Wiegand: "Europas fragmentierte Rüstungsindustrie muss zusammenwachsen"

Die Rüstungsexpertin vom Drohnenhersteller Quantum Systems über die nötigen Strategien in der aktuellen Sicherheitspolitik und die derzeitigen Entwicklungen in der Militärtechnologie.

Wie kriegsentscheidend Drohnen geworden sind, zeigte eindrucksvoll die „Operation Spinnennetz“ am 1. Juni 2025. Mit der langfristig vorbereiteten Offensive traf die Ukraine gleich vier strategisch wichtige Luftwaffenstützpunkte Russlands und schaltete mehrere Langstreckenbomber aus. Was die Entwicklung der Waffensysteme für die Sicherheitspolitik Europas bedeutet und wie sich die Rüstungsindustrie aufstellen sollte, erläuterte auf dem Wirtschaftsforum Susanne Wiegand. Die ehemalige Vorstandschefin des Rüstungszulieferers Renk Wiegand gehört mittlerweile dem Advisory Board des Drohnenherstellers Quantum Systems an.

Ukraine-Krieg, Nahost-Krieg, der Kurs der Trump-Regierung – haben Sie den Eindruck, dass sich die Menschen in Europa inzwischen der neuen sicherheitspolitischen Lage bewusst sind?

Ich glaube, die meisten Menschen in Europa haben verstanden, dass Sicherheit nicht per se gegeben ist auf unserem Kontinent, dass man für die Verteidigung der Demokratie Streitkräfte braucht und dass man sie gut ausrüsten muss. Und damit ist natürlich auch die Rüstungsindustrie salonfähig geworden, wie ich es formuliere. In den ESG-Nachhaltigkeitskriterien war sie sogar auf eine Stufe mit Alkohol, Glücksspiel oder etwa Prostitution gestellt worden. Das hat sich massiv geändert. Das sehen wir auch daran, dass wir ein durchaus attraktiver Arbeitgeber geworden sind.

Was hat sich im Umgang zwischen Rüstungsindustrie und Politik verändert?

Die Gesprächskanäle haben sich intensiviert. Die Zusammenarbeit wird enger, auch wenn sie noch nicht institutionalisiert ist wie in anderen Ländern. Soweit sind wir in Deutschland noch nicht, vielleicht müssen wir da auch nicht hin. Aber ein intensiver Dialog in Zeiten, in denen man sich gegenseitig braucht, macht schon Sinn.

Was erwarten Sie sich vom Regierungswechsel?

Ein fundamental wichtiger Schritt ist natürlich der neue Finanzrahmen, der ja schon vor dem Regierungswechsel beschlossen worden ist, unter dem Mitwirken aller Beteiligten. Dieser große Hemmschuh – wir haben kein Geld oder nicht genug Geld – ist damit passé. Im Handeln der Regierung habe ich aber bislang noch keine großen Veränderungen wahrgenommen.

Sie haben die Wichtigkeit betont, dass in der Verteidigungspolitik auch Industrie- und militärische Kompetenz verankert sind. Sehen Sie das gegeben?

Das ist noch schwer zu beurteilen. Ich habe gesagt: Wenn ich Verteidigungsministerin wäre, dann würde ich mir ein kleines Expertengremium aufbauen, mit einsatzerfahrenen Militärs und Leuten, die zutiefst verstehen, wie die Industrie funktioniert. Denn wir müssen jetzt skalieren, strukturell andere Wege gehen – also nicht nur ein bisschen mehr machen oder ein bisschen schneller. Das wird nicht reichen.

Mit „Skalieren“ und „Neu Strukturieren“ meinen Sie die europäische Ebene?

Es wäre nicht sinnvoll, wenn jeder im Kleinen sein Ding macht. Wir haben zum Teil in den Unternehmen und in gemeinsamen Projekten europäische Strukturen, aber noch viel zu wenig. Die fragmentierte Rüstungsindustrie in Europa muss dringend zusammenwachsen. Deshalb ist auch geboten, trotz der souveränen Interessen der Länder, dass wir das europäisch denken und tun.

Jedes Land würde also arbeitsteilig eine andere Rüstungsgattung produzieren?

Man muss unterscheiden zwischen etablierter Rüstungsindustrie und neuen Technologien, wo es noch keine etablierten Strukturen gibt. Solche lassen sich nicht ohne weiteres aufbrechen. Da müssen wir stattdessen in Gemeinschaftsprojekte und -programme kommen. In Europa haben wir zu viele verschiedene Waffensysteme und Konfigurationen. Wir brauchen gemeinsame Standards. Dann müsste man auch nicht sagen: Nur einer macht Drohnen und die anderen nicht. Und man müsste von keinem Land verlangen, dass es Kompetenzen oder Arbeitsplätze aufgibt. Im Gegenteil: Für die nötigen Stückzahlen und stabile Lieferketten brauchen sie die gesamten Industriekapazitäten, die auch noch weiter ausgebaut werden müssen. In den Bereichen, in denen Strukturen noch nicht etabliert sind, kann man gleich europäisch denken und sich fragen: Was wäre eine ökonomisch sinnvolle Arbeitsteilung?

Was sollte die Politik vor diesem Hintergrund tun?

Auch wenn wir privatwirtschaftliche Strukturen haben und das auch so bleiben sollte, kann die Politik Standards setzen. Das beinhaltet gemeinsame Spezifikationen, die Verständigung auf das gleiche Gerät oder die Harmonisierung in Fragen der Exportkontrolle und der Regularien.

Konkret würde das den Bau beispielsweise einer europäischen Drohnenfabrik bedeuten?

Ich glaube, jeder möchte auch immer noch die Wahl zwischen zwei, drei Herstellern haben, Monopole sind ungesund. Aber wir sollten uns in Europa auf bestimmte Drohnentypen verständigen und diese Modelle in großen Stückzahlen mit resilienten Lieferketten produzieren.

Was sind die aktuellen Tendenzen bei der Entwicklung von Drohnen und ihren Funktionen?

Zunächst einmal: Kein Krieg, kein Gefechtsfeld ist mehr ohne Drohnen denkbar. Wir können unterschiedliche Missionen unterscheiden. Es gibt Drohnen mit Kameras zur Aufklärung. Sie übermitteln Zieldaten über die Stellung des Feindes etwa an die Artillerie, agieren also im Verbund mit anderen Waffensystemen und erzeugen das, was wir heute ein gläsernes Gefechtsfeld nennen. Dann gibt es Drohnen, die sozusagen fliegende Munition sind, sogenannte Loitering Munition, andere kommen in der Abwehr von Drohnen zum Einsatz. Die Spannweite reicht von ganz kleinen bis hin zu sehr großen Drohnen mit den unterschiedlichen Einsatz- und Verwendungszwecken.

Was bedeutet das für die anderen Waffensysteme?

Die Drohnen sind „on top“. Es wäre nicht richtig zu sagen: Ich brauche morgen keinen Panzer mehr. Es geht darum, Territorium zu verteidigen oder wie im Fall der Ukraine Gelände zurückzuerobern und auch zu halten. Das geht nicht nur aus der Luft. Aber es kommt auf die Kombination an, und man braucht vielleicht auch weniger konventionelles Großgerät.

Der Wandel braucht Zeit. Andererseits haben wir in der Ukraine eine akute Lage.

Es gibt vereinfacht gesagt jetzt zwei Zeitlinien. Was ist, wenn Russland die NATO an der Ostflanke testen will? Da haben wir ein Zeitfenster in den nächsten 12 bis 18 Monaten, mit dem wir umgehen müssen. Dafür müssen wir kurzfristig unsere Abschreckungsfähigkeit und auch unsere Durchhaltefähigkeit auf Basis des verfügbaren Materials und Personals stärken. Parallel müssen wir mittelfristig unsere Flottengrößen wieder auf einen Stand bringen, damit wirksame Abschreckung langfristig funktioniert und wir der Ukraine zu einem langfristigen Frieden verhelfen können. Es gibt also zwei Zeitachsen, und beide müssen jetzt angestoßen werden.

Beratungsanfrage

Bitte beachten Sie unsere Honorare
Datenschutzhinweise ansehen
* Pflichtfelder