KRIMINALITÄT
"Die organisierte Kriminalität ist ein High-Profit-Low-Risk-Geschäftsmodell”
Global Crime Report: Prof. Dr. Jürgen Stock, Ex-Generalsekretär von Interpol, über Fortschritte und Rückschläge bei der Bekämpfung der weltweiten organisierten Kriminalität.
Expansion, Diversifikation, Kooperation, aber auch zunehmende Investitionen in legale Märkte und „Crime as a Service“: Prof. Dr. Jürgen Stock brachte in seinem „Global Crime Report“ bei NEU DENKEN die globalen Tendenzen der organisierten Kriminalität auf den Punkt. Der Jurist, der bis Ende 2024 zehn Jahre lang Generalsekretär von Interpol war, hat wie sonst kaum jemand einen Überblick über die Entwicklungen, Rückschläge, aber auch Perspektiven in der weltweiten Kriminalitätsbekämpfung.
Wenn Sie eine weltweite Karte der Kriminalität zeichnen würden: Welche globalen Tendenzen beobachten Sie?
Generell kann man sagen, dass sich die Globalisierung der organisierten Kriminalität, kurz OK, ebenso vollzogen hat wie die der restlichen Welt. Trotz geopolitischer Rückbesinnung auf das Nationale operieren kriminelle Gruppierungen heute globaler denn je. Besonders Cyberkriminalität ist kraft Natur der Sache grenzenlos.

Interpol, über Fortschritte und Rückschläge bei der
Bekämpfung der weltweiten organisierten Kriminalität.
Wo hat die transnationale organisierte Kriminalität besonders zugenommen?
Es mangelt an vergleichbaren Daten. Es gibt keine weltweit einheitlichen Definitionen zu OK, Terrorismus oder Mord, und häufig keine systematische nationale Erfassung von Straftaten. Vergleiche bleiben daher eher anekdotisch. Aber kein Zweifel: Weltweit nimmt die Bedrohung zu. Wir sehen zum Beispiel in Südamerika eine Zunahme von Gewalt im Zusammenhang mit Drogenhandel, etwa in Ecuador. In Europa haben Belgien, die Niederlande, Frankreich und Schweden große Probleme mit Bandenkriminalität. Dabei unterscheide ich zwei OK-Typen: Einerseits Gruppierungen, die mit brutaler Gewalt Revierkämpfe führen und auch politische Entscheidungsträger bedrohen, andererseits solche, die unter dem Radar von Polizei und Justiz zu bleiben versuchen, nebenbei legal wirtschaften und vereinzelt Administration und Wirtschaft unterwandern.
Wie wird in anderen Ländern Kriminalität erfasst, wenn es keine Statistik wie in Deutschland gibt?
Eben nicht im Sinne eines systematisch erhobenen Lagebildes. Selbst die deutsche Kriminalstatistik hat Schwächen, zum Beispiel das große Dunkelfeld im Bereich der OK. Opfer haben kein Interesse an Strafverfolgung oder zeigen aus Angst nicht an. Aufdeckung von Taten hängt von polizeilicher Schwerpunktsetzung ab. Ermittelnde Behörden wie Polizei, Zoll, Steuerfahndung, Staatsanwaltschaft haben kein gemeinsames Lagebild.
Gibt es auf der Welt überhaupt so etwas wie sichere Häfen oder ist das eine Illusion?
Leider gibt es einige „sichere Häfen“ für OK-Straftäter. Aber kein Land ist frei von dieser Kriminalitätsform. Andererseits gibt es beachtliche Erfolge. Beispiel Italien: Dort hat man durch enge Kooperation der Sicherheitsbehörden, intensive Geldwäschebekämpfung und Zusammenarbeit mit Interpol die kalabrische Ndrangheta wirksam zurückgedrängt. Das I-CAN-Projekt von Interpol führte weltweit zur Festnahme von über hundert Top-Kriminellen – auch in Ländern, die noch nicht wussten, dass sie ein Ndrangheta-Problem haben.
Warum ist organisierte Kriminalität weltweit so erstarkt?
Es ist ein „High-Profit-Low-Risk“-Geschäftsmodell. Die Gewinne sind in allen Feldern astronomisch: Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, illegaler Abbau von Bodenschätzen, Wilderei, aber auch Wirtschaftskriminalität wie der „Wirecard“-Fall. Jährlich werden rund zwei Billionen US-Dollar an kriminell erzielten Gewinnen durch das globale Finanzsystem geschleust. Weniger als ein Prozent davon wird sichergestellt. Das zeigt die Dimension.
Gibt es geografische Schwerpunkte?
Jeder Erdteil hat historisch-strukturell verankerte OK. Man spricht von italienischer Mafia, Balkankartellen, russisch-eurasischer OK wie den „Thieves-in-Law“, dem nigerianischen „Black Axe“- Syndikat, dem Sinaloa-Kartell in Mexiko oder Yakuza in Japan. Früher konkurrierten diese Gruppen, heute kooperieren sie zunehmend. Dann gibt es OK im Cyberspace: im Darknet, anonym, hochspezialisiert.
Interpol hat 196 Mitgliedstaaten. Wie sieht es mit den Ressourcen der Polizeibehörden weltweit aus?
Ressourcen sind überall knapp. Dennoch ist die Polizei des Globalen Nordens gut ausgestattet. Aber 70 bis 80 Prozent der Interpol-Mitgliedsstaaten haben kaum Mittel und kriminalistisches Know-how. Interpol hilft mit Basisausstattung, Schulungen und Vernetzung. Lücken in der Strafverfolgung werden von Kriminellen ausgenutzt und Gefahren kommen eben zunehmend von außerhalb der eigenen Landesgrenzen.
Wie steht Europa im internationalen Vergleich da?
Europa ist in Sachen Zusammenarbeit mit Abstand am besten aufgestellt. Es gibt Europol für zentrale Analyse und Koordinierung. In Afrika, Asien oder Südamerika existieren immerhin erste Ansätze wie Afripol oder Ameripol. Deutschland hat ein starkes zentrales BKA. Besorgt macht das hohe Korruptionsniveau auch in Europa. Und die Bekämpfung von Geldwäsche muss dringend optimiert werden, auch durch stärkere Einbindung des Finanzsektors und eine Beweislastumkehr. Hierzu steht Interessantes im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung.
Wie nutzt organisierte Kriminalität globale Konflikte?
Krisen wie Kriege, Klima, Wasser- und Energieknappheit, Migration werden systematisch ausgenutzt. Instabilität erleichtert kriminelle Geschäfte. Nach den Balkankriegen nahm der Waffenhandel zu, und auch in der Ukraine dürfte das so kommen, wenn die Waffen eines hoffentlich nahen Tages schweigen. OK-Gruppierungen diversifizieren zudem ihre illegalen Geschäfte. Drogenkartelle handeln auch mit gestohlenen Waren, schleusen Migranten und plündern Rohstoffe; Polykriminalität ist das Stichwort, begangen durch ein professionell-kriminelles Management.
Wie lässt sich Ihrer Einschätzung nach der sogenannte „Kokaintsunami“ stoppen?
Trotz Rekordsicherstellungen ist der Markt gesättigt, Preise sind stabil. Kartelle sind flexibel, verlagern Schmuggelrouten. Verluste sind eingepreist. Man sollte die Nachfrageseite stärker in den Blick nehmen, aber nicht notwendig mit strafrechtlichen Mitteln.
Droht Europa eine ähnliche Fentanyl-Krise, wie wir Sie in den USA beobachtet haben?
Fentanyl ist in Europa angekommen, wird sich aber wohl nicht ähnlich ausbreiten. Die US-Krise ist durch eine andere Verschreibungspraxis begünstigt. Dennoch ist Monitoring essenziell. Ein Rückgang des Heroinangebots aus Afghanistan könnte die Gefahr erhöhen. Die Zahl der Drogentoten in Deutschland ist ohnehin auf Rekordniveau.
Was gibt Ihnen Hoffnung im Kampf gegen all dies?
Künstliche Intelligenz. Sie wird einerseits bereits von Kriminellen genutzt, hilft aber auch den Ermittlern, riesige Datenmengen auszuwerten. Besonders bei dem schrecklichen Massendelikt Kindesmissbrauch im Zusammenhang mit dem Internet ist das essenziell. Zudem bin ich weltweit unzähligen engagierten Polizistinnen und Polizisten begegnet, die mit begrenzten Mitteln Großes leisten. Dieses Engagement gibt mir Hoffnung.