Dr. Hendrik Brandis: „Die technologische Innovation hat sich exponentiell beschleunigt“
Der Mitbegründer von Earlybird über KI bei Investitionen in Start-ups, das gewaltige Potenzial von DeepTech und seine Wünsche an die deutsche Bundesregierung.
Dr. Hendrik Brandis, Mitbegründer und Partner des Wagniskapitalgebers Earlybird Venture Capital, sprach beim Wirtschaftsforum NEU DENKEN über „How to measure Innovation – welchen Ideen gehört die Zukunft?“ Earlybird investiert in den ganz frühen Innovationsphasen und sondiert dafür mit KI-Technologie jährlich insgesamt rund 50.000 Start-ups in ganz Europa.
Die KI revolutioniert alle Arbeits- und Lebensbereiche. Wie zeigt sich das bei einem Risikokapitalinvestor?
Wir haben diese Adaption früh eingeleitet. Gerade in der Frühphase im Bereich Venture Capital stehen wir vor der Herausforderung, überhaupt Zugang zu den für Investitionen interessanten Start-ups zu finden. Typischerweise sind sie dann aus Selbstschutz noch im Stealth-Modus unterwegs, bleiben also bewusst unter dem Radar. Sie wollen gar nicht im Internet gefunden werden. In der Vergangenheit mussten wir darauf hoffen, dass unsere Marke bekannt ist und sie uns finden. Oder wir haben unsere Netzwerke genutzt, um aktiv Kontakt aufzunehmen. Das hat sich geändert: Vor acht Jahren haben wir mit einem KI-basierten IT-System begonnen. Mit ihm durchforsten wir kontinuierlich rund 200 Datenbanken und versuchen, Muster zu erkennen, die auf Innovation hindeuten.

Wie kann man sich das vorstellen?
Sagen wir, ein Herr Willi Plattes lädt bei der Softwareentwicklungs-Plattform GitHub einen Code hoch und erhält dafür gute Bewertungen, sucht gleichzeitig bei LinkedIn nach Data Scientists und meldet im balearischen Handelsregister eine neue Sociedad Limitada (S.L.) an. Dann sagt unser System: Mit Willi Plattes müssen wir mal reden. Das klingt, als ob er eine Innovation im Kopf hat. Der Dealflow – also die Zahl potenzieller Investitionsmöglichkeiten – ist von ungefähr 8.000 auf rund 50.000 Investitionsmöglichkeiten pro Jahr gestiegen. Statt 20 bis 30 Prozent der Möglichkeiten nehmen wir mehr als 90 Prozent wahr. Das sind dramatische Veränderungen.
Spielt die Künstliche Intelligenz auch bei der Auswahl der Projekte eine derart zentrale Rolle?
In der Frühphase beruht unsere Selektion zu einem hohen Teil auf der Bewertung der Gründerpersönlichkeiten. Aber auch diese lässt sich ein Stück weit auf Daten basieren. Hat die Person schon mal ein erfolgreiches Unternehmen gegründet? Kommt sie oder er aus Stanford, von Harvard oder aus Buxtehude? Die KI schaut in die Vergangenheit erfolgreicher Unternehmer und zieht dann Schlüsse zu jetzigen Profilen.
Wie viel Raum bleibt da noch für persönliche Erfahrung?
Jede Entscheidung trifft ein Mensch. Wir nehmen regelmäßig ein Overruling vor, also eine manuelle Änderung der ermittelten Ratingergebnisse – dadurch wird die Künstliche Intelligenz besser. Sie hilft in der Priorisierung, macht uns effizienter und stellt Daten zur Verfügung, mit denen wir dann aber als Menschen entscheiden.
Stichwort DeepTech, also Technologien, die oft bahnbrechende Innovationen ermöglichen: Welche Bereiche sind derzeit interessant für Investitionen in Start-ups?
Sie können grundsätzlich unterscheiden zwischen Investitionen in Businessmodell-Innovationen und DeepTech-Deals. 2018 lag deren Anteil in Europa bei 18 Prozent. 2024 hat er sich auf 35 Prozent fast verdoppelt. Der Grund: Die technologische Innovation hat sich exponentiell beschleunigt, und gleichzeitig mit dieser Beschleunigung nimmt auch die Kapitaleffizienz extrem zu. Damit sind heute Dinge möglich, die gestern noch wahnsinnig kapitalintensiv waren. Noch vor 20 Jahren wäre ein Venture-finanziertes Raketenunternehmen undenkbar gewesen. Dann hat SpaceX gezeigt, dass das kapitaleffizienter geht. Ähnliches gilt für Projekte in der Kernfusion – heute geht das. Und diese Liste kann ich immer weiterführen.
Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?
Das liegt meines Erachtens daran, dass bei technologisch differenzierten Deals das Risiko zu einem guten Teil in der Realisierung eines Konzeptes besteht, weniger aber im Product Market Fit, also der Markteignung. Beispiel Kernfusion: Wenn sie funktioniert, werde ich den Strom schon verkauft bekommen – da gibt es kein Marktrisiko. Baue ich dagegen ein Unternehmen im Bereich Quick Commerce auf, dann ist es genau umgekehrt. Beim Aufbau besteht kein Risiko. Aber habe ich auch eine auskömmliche Marge, um die zusätzlichen Kosten für Quick Delivery zu bezahlen?
Bei früheren Ausgaben von NEU DENKEN wurde bemängelt, dass Investoren in Europa weniger bereit seien, Risiken einzugehen. Das hat sich geändert?
Die Bereitschaft, Tiefen-Technologien zu finanzieren, hat zugenommen. Das liegt aber vor allem daran, dass die Kapitaleffizienz zugenommen hat. Brauchte man früher 3 Milliarden Euro, um eine Rakete in den Orbit zu bringen, sind es heute nur 350 bis 400 Millionen. Auf einmal wird das auch für private Wagniskapitalgeber verdaulicher. Ähnlich bei der Kernfusion. In der Vergangenheit sind 50 Milliarden Euro in die thermische Fusion geflossen. Wir versuchen jetzt die kinetische Fusion, da brauchen wir unter 400 Millionen Euro bis zum vollständigen Nachweis. Hinzu kommt: Durch die exponentielle Beschleunigung der Innovation hat sich das Feld potenzieller Investitionsmöglichkeiten extrem verbreitert. In den 80er- und 90er-Jahren gab es im Grunde eine Plattformtechnologie pro Dekade, auf deren Basis viele Start-ups entstanden sind. In den 80ern war es der PC, in den 90ern das Internet. Für die 2020er fallen mir unzählige innovative Plattformtechnologien ein, von denen jede so mächtig ist wie damals der PC oder das Internet, etwa KI, Metaverse, Blockchain, Cloud Computing, die Kommerzialisierung der Raumfahrt oder in der Biotechnologie mRNA.
Dieses Potenzial, das Sie beschreiben, steht im Gegensatz zur zuletzt ziemlich miesen Stimmung in Deutschland. Hat auch die deutsche Wirtschaft die Möglichkeiten, dieses Potenzial auszuschöpfen?
Das steht außer Frage. Es fehlt aber an ausreichendem Wachstumskapital, also den Investitionen. Dabei wären die Beträge da, man muss nur die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen: In den Zeiten des Wirtschaftswunders zwischen 1950 und 1970 hat Deutschland zwischen drei und vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Wachstumsunternehmen investiert.
Und wie sieht es heute aus?
Bei drei bis vier Prozent des Bruttosozialprodukts reden wir heute über 150 Milliarden Euro an Investitionen im Jahr. Tatsächlich waren es in den vergangenen Jahren aber nur jeweils 7 bis 8 Milliarden Euro. Das ist in etwa der Faktor 20. Stellte früher das produzierende Gewerbe die Wachstumsunternehmen, sind es heute wissensbasierte Unternehmen. Und diese kann ich nicht mit Fremdkapital finanzieren, weil sie keine Sicherheiten zur Verfügung stellen können. Aber das ändert nichts daran, dass ich im gleichen Umfang investieren muss. Das ist auch profitabel, aber ich brauche andere Akteure, andere Kapitalquellen. Diese Transformation ist uns im Gegensatz etwa zu den USA nicht gelungen. Dort basiert das Rentensystem auf privaten Pensionsfonds, und es gibt viele große Stiftungen. Sie investieren zu einem sehr signifikanten Teil in Venture Capital.
Was ist vor diesem Hintergrund Ihr größter Wunsch an die neue Bundesregierung in Deutschland?
Schafft Rahmenbedingungen, damit Kapital in Wachstumsunternehmen fließt. Nach der Finanzkrise wurde über Solvency II, also die Harmonisierung des Versicherungsaufsichtsrechts in Europa, ein Regulierungsbeiwerk geschaffen, das durch Auflagen in Sachen notwendiger Eigenkapitalunterlegung für institutionelle Investoren zu restriktiv ist. Wenn die deutsche Versicherungsindustrie jedes Jahr 300 Milliarden Euro neu investiert, davon aber faktisch nichts in Wachstumsunternehmen geht, sondern fast alles in Staatsanleihen, dann liegt das unter anderem auch an Solvency II. Dabei sagt die Wissenschaft: Bei der Investition in ein qualifiziertes Portfolio von 250 bis 300 Wachstumsunternehmen ist das Teilverlustrisiko tatsächlich null. Solvency II lässt sich natürlich nicht über Nacht ändern. Man könnte aber aus der Not eine Tugend machen: Da ein so breit diversifiziertes Risiko kein Teilverlustrisiko hat, könnte die Bundesregierung eine Staatsgarantie dafür auflegen. Es wäre eine Win-win-Situation.